Die Schildbürger GmbH führt Home Office ein
Erschienen bei HR Today am 3. März 2016
Es begann alles ganz harmlos. Der CEO der Schildbürger GmbH, Anton Bitterli, schnappte den Begriff «Home Office» zum ersten Mal während des CAS-Kurses «Digital Leadership» auf, den er seit neustem absolvierte. Eine Generation-Y Kommilitonin ertappte ihn dabei, wie er auf seinem Smartphone nach einem lokalen Ableger eines solchen Home Office googelte, und klärte ihn jovial über den Trend des Arbeitens von zu Hause aus auf.
Begeistert von der simplen Idee bestellte Bitterli seinen Personalchef am nächsten Morgen um 8.00 Uhr zu sich ins Eckbüro. In gewohnt väterlicher Manier verkündete er diesem stolz, fortan auch zu den modernen Unternehmen gehören zu wollen, die ihren Mitarbeitern die Arbeit im Home Office ermöglichen. Der Personalchef, ein Jahr vor der Pensionierung und grosser Verfechter des Taylorismus, nickte beflissen, notierte sich, was ihm da an geballter Innovationskraft entgegenprallte und versprach, sich der Sache mit höchster Dringlichkeit anzunehmen. Nach drei starken Kaffees und ausführlicher Internet-Recherche verstand auch er ansatzweise, was es mit der neuen Idee des CEOs auf sich hatte. Flugs erstellte er ein 20-seitiges Pamphlet, das den Umgang mit der neuen Freiheit bis ins kleinste Detail regelte.
Als er dieses am Nachmittag sichtlich erschöpft dem CEO präsentieren wollte, beschied ihm die Direktionsassistentin mit ratlosem Blick, dass sich Herr Bitterli überraschend ins «Heimbüro» zurückgezogen hatte. Der Personalchef tat es ihm gleich und verliess die Betriebsstätte fluchtartig, um sich in seiner Lieblingskneipe ein Bier zu gönnen. Seine Freude war allerdings von kurzer Dauer, da er schon beim Eintreten ins Lokal Bitterli in der dunklen Ecke mit der Buchhaltungspraktikantin erspähte, so dass er unverrichteter Dinge zurück ins Büro ging.
Bereits wenige Tage später war das neue Home-Office-Reglementarium erfolgreich per Kaskade in der Schildbürger GmbH eingeführt worden. Die wichtigsten 10 Gebote lauteten:
- Home Office darf nur während den Bürozeiten praktiziert werden, die Arbeitszeit von 8.5 Stunden pro Tag ist einzuhalten.
- Grundsätzlich haben alle ein Recht auf Home Office; der Vorgesetzte kann dies jedoch ohne Nennung von Gründen streichen.
- Home Office ist nur toleriert, wenn der Mitarbeiter zu Hause über einen geschlossenen Raum mit ergonomischen Büromöbeln verfügt.
- Vor dem erstmaligen Arbeiten im Home Office muss ein Eignungstest absolviert werden.
- Es ist nicht erlaubt, während der Arbeit im Home Office privaten Verpflichtungen nachzugehen (Toilette entstopfen, Nachbars Katze vom Baum retten, den Kindern klaffende Fleischwunden verbinden etc.).
- Die Pausen sind einzuhalten und in der Zeiterfassung korrekt einzutragen.
- Der Chef kann morgens um 8.00 Kontrollanrufe tätigen; auf seinen Wunsch haben diese per Videoübertragung stattzufinden.
- Der Präsenzstatus muss permanent auf grün oder rot sein; bei «abwesend» zu Kernzeiten behält sich der Vorgesetzte ebenfalls Kontrollanrufe vor.
- Die Mitarbeiter müssen im Home Office bis zum Feierabend permanent erreichbar sein.
- Es ist nicht zulässig, Mails ausserhalb der Bürozeiten zu verschicken und zu lesen.
Trotz der ebenfalls angeordneten Begeisterung und wöchentlichen Mitarbeiterbefragungen, die von einstimmiger Akzeptanz zeugten, spielten sich plötzlich merkwürdige Dinge in der Schildbürger GmbH ab:
- Die Planung von Meetings lief völlig aus dem Ruder. Es war oft auf Monate hinaus nicht möglich, einen gemeinsamen Termin zu finden, da die Mitarbeiter auf ihrem fixen Home-Office-Tag beharrten.
- Die Kundenzufriedenheit sank um 40%, da die Hotline entweder gar nicht mehr besetzt war oder wenn sie besetzt war, ständig komische Geräusche im Hintergrund die Interaktionsqualität zwischen Kunde und Mitarbeiter schmälerte.
- Die Produktivität sank um 50%, da sich die Zeiterfassung im Home Office viel komplizierter gestaltete und zudem die Kontroll-Emails zwischen Chef und Mitarbeiter aber auch zwischen Mitarbeiter und Mitarbeiter ein Volumen erreichte, das ohne zusätzliche Assistenzfunktionen nicht mehr zu bewältigen war.
- Die Mitarbeitermotivation brach um 35% ein, da die individuellen Bewilligungsprozesse in totaler Willkür und gegenseitigen Verleumdungen ausarteten.
- Die Mitarbeiterfluktuation verdoppelte sich. Dies zum einen, weil sich ältere Mitarbeiter weigerten, moderne Kommunikationslösungen zu nutzen. Zum anderen, weil die neuen Mitarbeiter keine Netzwerke bilden konnten, weil ausser ihnen praktisch niemand im Büro war.
- Die Anzahl der innerbetrieblichen Disziplinarverfahren verzehnfachte sich, weil fast alle Mitarbeiter aus Langweile und Frust Nebentätigkeiten nachgingen.
Basierend auf diesen merkwürdigen Vorfällen entschied Anton Bitterli den Versuch «Home Office» nach einem halben Jahr als gescheitert zu erklären. Der Personalchef – nach einem leichten Burnout frühpensioniert – startete eine erfolgreiche zweite Karriere als TEDx Speaker und YouTube Star zum Thema: «Das Home Office – der natürliche Feind des Unternehmers.» Krönung seiner späten Karriere war die Titelstory der «Schildbürger-Times» in der Kategorie disruptive Innovatoren.
Fazit
Im Folgenden die wichtigsten Akteure dieses neumodischen Schildbürgerstreichs:
Schildbüger-Manager: Sie gehen davon aus, dass nur sie intelligent und ihre Mitarbeiter grundsätzlich dumm, faul und unmotiviert sind. Deshalb befähigen, kontrollieren und ködern sie ihre Mitarbeiter. Aus dem gleichen Grund nehmen sie den Mitarbeiter auch nicht ganz von der Leine, sondern verlängern diese lediglich. Home Office wird so quasi zum offenen Strafvollzug.
Schildbürger-Mitarbeiter: Sie sehen Home Office als angeborenes Grundrecht. Von «geben und nehmen» haben sie vor allem «nehmen» verstanden; sie fordern Flexibilität, um ihre eigene Unflexibilität und Arbeitsaversion eleganter zu kaschieren.
Schildbürger-Journalisten: Sie ergötzen sich an jeder noch so trivialen Randnotiz, die im Entferntesten ein Scheitern von neuen Arbeitsmodellen implizieren könnte. «Wir haben es ja gewusst», triumphieren sie süffisant – nicht etwa, weil sie Gegner von mehr Flexibilität wären, sondern weil sie selber kaum in den Genuss von selbstbestimmtem Arbeiten kommen. Kaum aus dem Zellenbüro befreit, finden sie sich als Opfer der Konvergenz in lärmigen Open-Space-Newsrooms wieder, in denen mehr Bewegungen pro Minute stattfinden als am Flughafen Zürich zur Rushhour.
Und für einmal endet das realitätsnahe Märchen nicht mit «und wenn sie noch nicht gestorben sind», sondern mit einem Appell an die Vernunft. Das Thema «Home Office» ist per se weder wichtig, noch spannend, noch ein direkter Nutzen, geschweige denn etwas Innovatives. Es ist lediglich ein Lackmustest, der zeigt, ob eine Organisation ihre Mitarbeiter nicht mittels Präsenzregime an den Schreibtisch fesselt, sondern auch wirklich eine Kultur der Eigenverantwortung, des Vertrauen und der Selbstorganisation lebt. Letzteres sind Eigenschaften, die im digitalen Zeitalter massiv an Bedeutung gewinnen, wenn es um die Überlebensfähigkeit und Innovationskraft von Organisationen geht.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich glaube nicht, dass jede Firma auf Biegen und Brechen neue Arbeitsmodelle einführen soll. Aber diejenigen, die sich bewusst für mehr Autonomie entscheiden, sollen diese Absicht nicht nur im Employer Branding nach aussen tragen, sondern sie auch konsequent durchziehen. Golden Rules, Merkblätter, Piktogramme und andere, wenn auch gut gemeinte Formen der Freiheitsberaubung, gehören in die Welt der Schildbürger. Das gleiche gilt für vorschnelle Urteile wie «Coworking löst Home Office ab» oder «das Home Office ist auf dem Rückmarsch» oder «Warum Generation Y nicht im Home Office arbeiten will» von vermeintlichen Experten.
Wo wir aber wirklich gefordert sind ist bei der Frage, wie wir mit den aktuellen technologischen und sozialen Veränderungen umgehen, damit sowohl Individuen als auch Unternehmen von den neuen Möglichkeiten profitieren können. Deshalb ist diese Schildbürgergeschichte auch als ein ernstgemeintes Plädoyer für ein neues Miteinander im digitalen Zeitalter zu verstehen.