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Coworking
Serendipity
Transformation
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2018 – Das Jahr des Coworkings

Erschienen im HR Today Blog im Januar 2018

2018 – Das Jahr des Coworkings

Alle reden darüber, aber erst wenige tun es: Coworking. Den Begriff geprägt hat Brad Neuberg 2008 in San Francisco. Zwei Jahre später hatte auch die Schweiz ihren ersten Coworking Space – mit dem von Jürg Rohner 2007 gegründeten Citizen Space im Zürcher Steinfelsareal. Mittlerweile sind es gemäss Jenny Schäpper, Präsidentin von Coworking Switzerland, bereits 110 (Stand Januar 2018). Ein beeindruckendes Wachstum, was das Angebot an Spaces und Flächen betrifft, doch wie sieht es mit der Nachfrage aus? Gemäss Deskmag sind weltweit nur knapp die Hälfte der Coworking Spaces profitabel; immerhin ist deren Anteil seit 2013 von 32 auf 40 Prozent angestiegen.

Würde man allerdings marktübliche Löhne einsetzen für die Universalgenies der Coworking-Space-Betreiber, die zugleich Event Organisatoren, Community Manager, Infrastrukturprofis, Kuratoren, Animatoren und Arbeitspsychologen sind, so würde der Anteil rentabler Spaces vermutlich deutlich geringer ausfallen.

Und trotzdem ist für mich 2018 das Jahr des Coworkings. Und natürlich des Erde-Hundes im chinesischen Horoskop. Der Grund für meine rosige Prognose liegt darin, dass die Unternehmen nach anfänglicher Skepsis Coworking für sich entdecken werden – nicht als hippen Büroersatz, sondern als Beschleuniger ihrer Transformation hin zu einer Kultur von mehr Mitarbeiter- und Kundenfokus.

Begründete Zurückhaltung der Firmen

Dass sich die Unternehmen nur zögerlich auf Coworking einlassen, macht aus zwei Gründen absolut Sinn. Zum einen teilen sie das eigentliche Bedürfnis, das zur Begründung der Coworking Bewegung geführt hat, nicht: «Because working alone sucks» (citizen space) oder wie Clay Spinuzzi die Coworking Mission etwas galanter beschrieben hat «working alone, together».

Gemeinschaft zu zahlbaren Preisen ist für Freelancer, Startups und Kleinstfirmen durchaus ein schlagkräftiges Argument – nicht aber für Firmen, die über ein Corporate Office verfügen. Geld ausgeben für etwas, was man nicht braucht, ist das eine – etwas zu kaufen, wovon man schon zu viel hat, das andere. Die meisten Firmen mit «herkömmlichen» Büros – rund 80 Prozent der Firmen haben nach wie vor traditionelle Konzepte mit persönlichen Einzelarbeitsplätzen im Einsatz – verfügen auf Grund des veränderten Arbeits- und Mobilitätsverhaltens ihrer Leute über viel ungenutzte Fläche. Schätzungen gehen davon aus, dass die Mitarbeiter im Schnitt nur 50 bis 60 Prozent ihrer Zeit überhaupt im Bürogebäude verbringen und je nach Aufgabe 30 bis 40 Prozent am persönlichen Arbeitsplatz.

Es stellt sich daher zurecht die Frage, warum Firmen die Arbeit ausserhalb des Büros nicht nur passiv fördern (etwa durch Arbeit im Homeoffice, bei Kunden/Partnern oder unterwegs), sondern die neuen dritten Orten auch finanzieren sollen. Kommt dazu, dass Coworking das Problem des durch flexible Arbeitsformen bereits erhöhten Koordinationsaufwands zusätzlich verschärft, wie dies die 2016 publizierten HSG-Studie «Coworking aus Unternehmenssicht» aufzeigen konnte, die ein gemeinsames Coworking-Experiment von Microsoft und Swisscom untersuchte (siehe Blogbeitrag vom Dezember 2016). Ist Coworking somit nur eine Art Brockenstuben-Revolte zur schönen neuen Arbeitswelt, wie sie Büroeinrichtungs- und Technologiefirmen propagieren?

Keinesfalls – aber eine konstruktive Annäherung kann nur dann stattfinden, wenn alle Beteiligten sich auf das Neue einlassen. Wenn Coworking-Unternehmer die Firmen nicht mit ihrer romantischen Vorstellung über «thriving» in Coworking Spaces (Spreitzer, Bacevice, Garrett 2015) zutexten. Und wenn Firmen Entscheidungen über zentrale Elemente der Arbeitskultur nicht dem Facility Management abdelegieren, die zwar die SECO-Gebote über einen zumutbaren Arbeitsplatz sowie die Anzahl Quadratmeter pro Mitarbeiter auswendig runterbeten können, ansonsten aber deutlich mehr vom Innenleben von Lüftungsanlagen in Minergiehäusern verstehen als dem Seelenhaushalt von Wissensarbeitern, die in einer Transformation feststecken.

Zeit für einen Paradigmenwechsel

Gibt man bei Google Scholar «Coworking» als Suchbegriff ein, so erscheinen 6560 Artikel, 90 Prozent sind um 2012 oder später entstanden, ein Drittel alleine 2016 und 2017 (Stand 31. Dezember 2017).

Das heisst nicht anderes, als dass auch die Forschung über Coworking noch in den Kinderschuhen steckt.  Schränkt man die Suche ein auf «Coworking aus Unternehmenssicht»*, so wird zudem klar, dass die wissenschaftliche Community noch nicht über das «working alone, together» hinausgekommen ist – nur 2 von 688 Artikel erwähnen die Anspruchsgruppe Unternehmen am Rande ein.

Nach wie vor wird fast ausschliesslich die Perspektive der Freelancer und Startups beleuchtet, einfach in verschiedenen «Geschmacksrichtungen»: Bibliotheken als Coworking Spaces, Coworking als Homeoffice Ersatz, Coworking als Service Public in Städten und Gemeinden, psychologische Aspekte von Coworking etc.

Ein klassisches Huhn-Ei-Dilemma also: Firmen trauen sich nicht an Coworking ran, weil für sie «Schutz vor Vereinsamung» kein überzeugendes Argument ist, und weil sie Coworking kaum systematisch nutzen, gibt es keine aussagekräftigen Studien über und für Unternehmen.

2018 wird sich auch das ändern – im Rahmen der von Village Office initiierten Coworking Experience werden Schweizer Coworking-Pioniere während eines Jahres wissenschaftlich von der Universität St.Gallen begleitet mit dem Ziel, mehr über Nutzenszenarien von Coworking aus Unternehmenssicht zu erfahren. Erste Resultate des rund einjährigen Pilotprojekts mit namhaften Teilnehmern wie Raiffeisen Schweiz, HHM, dem Bundesamt für Informatik, TetraPak und Repower werden im Sommer 2018 erwartet.

Ein Blick in die Kristallkugel

Ohne mit Madame Etoile zu stark in Konkurrenz treten zu wollen, möchte ich diesen Beitrag damit abschliessen, dass wir das Rad der Zeit ein paar Jahre nach vorne drehen zum Jahr 2025. Nicht nur weil dann Coworking den 20. Geburtstag feiert, sondern auch, weil wir erwarten können, dass dann die Mehrheit der Firmen ihre Leerstände korrigiert hat, bzw. Flächenkonzepte im Einsatz sind, welche flexibles Arbeiten effizienter unterstützen.

Würden wir dann über Coworking aus der Sicht von Unternehmen nachdenken, so könnten folgende Vorteile nachgewiesen werden:

  1. Employer Branding: Firmen, die Coworking ermöglichen, gelten als attraktivere Arbeitgeber, da sie sich für eine smartere Mobilität (Reduktion Pendlerströme sowie Ausgleich von Verkehrsspitzen) sowie das Wohlergehen ihrer Mitarbeiter einsetzen und offen sind für innovative Arbeitsformen.
  2. Employee Engagement: Firmen, die Coworking fördern, haben nachweislich engagiertere und motiviertere Mitarbeiter. Dies kann insbesondere durch die beiden starken Motivationstreiber Autonomie und Vertrauen begründet werden, welche dank Coworking nicht nur Lippenbekenntnisse, sondern gelebte Elemente der Arbeitskultur sind.
  3. Culture Spillover: Es konnte nachgewiesen werden, dass Mitarbeiter, die sich im Freelancer und Startup-Umfeld bewegen, ihr eigenes Verhalten aufgrund der stimulierenden Dynamik reflektieren und sich selber auf natürliche Weise mehr Entre- und Intrapreneurship entwickeln. Diese freiwillige Form der Anpassung ist zudem um ein Mehrfaches wirksamer als durch Unternehmen initiierte Kulturveränderungsinitiativen hin zu mehr Agilitä
  4. Räumliche Flexibilität: Firmen, die Coworking als alternative Arbeitsform (Ergänzung zum Corporate Office, Abdecken von Spitzenauslastungen, für bestimmte Projektphasen oder für Kooperationen mit Externen) oder Ersatz für ein eigenes Büro nutzen (z.B. Zweigniederlassung in Randregionen), können nach meiner Prognose bis zu 50 Prozent an Infrastrukturkosten einsparen durch die Reduktion der benötigten Fläche sowie tiefere Unterhaltskosten.
  5. Ausbrechen aus Firmenpolitik: Coworking Spaces sind neutrale Zonen, die frei sind von Firmenpolitik. Dieser Aspekt ist insbesondere in Veränderungsprozessen von grosser Bedeutung.
  6. Offene Innovationsprozesse: Coworking Spaces fördern als neutrale dritte Orte die formelle und informelle bereichsübergreifende Zusammenarbeit mit Externen auf Augenhöhe.
  7. Organisationales Lernen: Coworking Spaces ermöglichen durch das Zusammenprallen von unterschiedlichen Menschen und Organisationen echte Lernprozesse und fördern diejenigen Kompetenzen, die für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zentral sind (Empathie, Kreativität, Selbstreflexion, kritisches Denken, Kollaborations- sowie Kommunikationsfähigkeit).
  8. Assisted Serendipity: Coworking Spaces fördern zufällige Entdeckungen und Begegnungen innerhalb und ausserhalb der Ökosystemgrenzen. Dies trifft insbesondere auf Spaces zu, die ein sehr gezieltes Community Management betreiben und die physische und virtuelle Vernetzung der Teilnehmer aktiv fördern durch Events, Enterprise Social Networking, Curated Introductions etc.
  9. Signal für Transformation: Coworking Spaces leisten nachweislich einen starken Beitrag zur Transformation von Organisationen. Sie bieten neutrale Reflexions- und Gestaltungsräume und stellen darüber hinaus selber ein sehr starkes Symbol der Veränderung dar, insbesondere was neue Organisations- und Führungsformen betrifft.
  10. Fördern von Boundary Management: Coworking Spaces sind insbesondere für sogenannte Segmentierer (zu Boundary Management im Kontext flexibler Arbeitsformen siehe Gisin 2014), also Menschen, die Arbeit und Privates strikt trennen möchten, ideal, da sie flexibles Arbeiten ohne die mit dem Homeoffice verbundene Entgrenzung ermö Dieser Aspekt ist im Hinblick auf den Umgang mit Diversität sowie punkto unterschiedlicher Arbeitsstyle und damit indirekt für die betriebliche Innovationsfähigkeit entscheidend.

Ich freue mich auf 2018 – das Jahr, in dem Coworking in der Schweiz der Durchbruch gelingt und Firmen erkennen, dass sie mit dieser vielversprechenden Arbeitsform den Unternehmergeist aus der Flasche befreien können. Natürlich brauchen Veränderungen ein bisschen Zeit, aber das Jahr hat auch erst begonnen. Oder wie mir Tobias Kremkau, Community Manager des legendären St.Oberholz in Berlin, im Hinblick auf Firmen-Coworker einmal erklärt hat: «Oft spielen sie zuerst auch bei uns Büro, aber das ändert sich relativ schnell».

Ps: Das Bild stammt aus meinem «first third space» – der Mountain Hub von mia Engiadina in Scuol. Natürlich ist nicht nur der Ort und Raum toll, sondern die Menschen, die das Projekt mit viel Herzblut stemmen.

*Analyse von 688 wissenschaftlichen und praxisrelevanten Publikationen im Rahmen einer Literaturrecherche über die letzten drei Jahre; nur zwei Artikel behandelten Coworking aus Unternehmenssicht ansatzweise, es konnte keine differenzierte Nutzenanalyse gefunden werden.